WG73 – Briefentwurf an Alma Mahler
Wien, Freitag, 16. September 1910

Laß mich heute sprechen – ganz ruhig, ich
habe in der Nacht alles überlegt, jeden
Gedanken wiederholt geprüft – ich spreche
dieses letzte mal mit Dir ganz
rein u offen ohne Frase [!] ohn.

 Zuerst eine Bitte: Sei nicht wie
gestern steinern u gefaßt, verbirg
nicht Deine Leiden vor mir, sondern
zeige sie mir, \sei weich u offen aber/ laße mir keine Illusi-
onen mehr, das kann sonst nur
noch verschlimmern.

 Eine schwere Frage, die Du mir be-
antworten sollst, Bitte!: Wann bist
Du zum ersten male [!] wieder seine
G.[attin] geworden?

Nun will ich Dir meine Gedanken u Gefühle der
letzten Tage erzählen. Musik hat mir
so ans Gemüt gegriffen, daß ich mit dem Ge-
fühl aus dem Konzert ging: wir könnens
ihm nicht antun, vor diesem Menschen
müssen wir uns beugen. Als ich die
Biografie las wurde es noch viel stär-
ker in mir und ich empfing Dich gestern
mit der Absicht, Dir das zu sagen, daß
wir rein bleiben müßten wollten.

 Was Du mir nun gestern sagtest
mußte mich verstummen machen.
Du hast mich zu klein aufgefaßt.
Meine letzten Briefe und dieses
Dir Folgen wie ein Schatten hast
Du wie das Gebahren eines jugend-
lichen, verliebten Knaben aufgefaßt.
Nur weil mich der Dämon der Ahnung
trieb mußte ich Dir folgen wie ein
Geist, um in Deinen Mienen
das geschehene zu lesen und schrieb


2

Dir diese hülflosen Briefe, die immer um
das gräßliche herumgingen und sich an einen
letzten Rest von Hoffnung klammerten.
Ich war nur noch Instinkt.

 Mein Glaube konnte nur darauf
stehen, daß Du ihm folgtest, ihn
bewahrtest u hütetest bis an sein Ende,
aber – nicht seine Geliebte warst.
Denke nicht daß ich Dir \irgend/ eine Schuld
beimesse, die suche ich nur in meiner
Natur; Du bist das \heiligste/ edelste, was es
giebt für mich – ganz unantastbar.
Damit das[s] Du das tatest hast Du
die Leidenschaft zu mir als eine
Verirrung bezeichnet und das fällt
nur auf mich zurück x Du sagst es sei
nicht unedel von ihm gewesen, ich
glaube es auch nicht mehr. Du fühlst
zu ihm eben doch mehr und durch das
Erlebnis ist er Dir auch der Mann
geworden; sonst – wenn Du es als
etwas so entsetzliches fühltest wie ich
müßtest Du langsam dabei zugrunde
gehn, er würde das fühlen und
Dich schonen. Also weil Du ihn \wieder/ liebtest
war es für Dich „undurchführbar“.
Nun begreife ich das alles so menschlich

nur zu gut, – aber ich habe
einen Tristanglauben – ich bin zu
sehr Idealist und muß di, mehr
als sich meine Natur das gestatten
darf. Mein Keuschheitsgefühl habe
ich als etwas so unerhört starkes
kennen gelernt – es sträuben sich mir
die Haare, wenn ich an das entsetzliche
denke. ich hatte es für Dich u mich [getan] u.
ich weiß, mit aller Bestimmtheit, daß
ich für Jahre Dir treu bleiben muß.
Aber diese Verdammnis ist nicht das
schlimmste für mich, sondern daß
mir die Begeisterung, der Glaube an
mich selbst genommen ist. Ich bin
wie ich Dirs oft gesagt habe ein Mensch
der nur in Begeisterung schaffen kann.
sich über sich selbst erheben kann;
seid [!] ich Deine \himmlische/ Liebe hatte, war ich
beflügelt, einfach zu allem fähig –
nun ist mein Los, wieder zu vege-
tieren in dumpfe Gleichgültigkeit
zurückzusinken, und ein Rückfall
ist noch \viel/ schlimmer. \Ich glaube nichts bis Du
                                         nicht irgend einen Trost für
                                         mich hast./

 Der einzige Trost an den ich mich
zu klammern suche ist der, daß ich
zwei herrliche Menschen wie Euch in
ihrem Leben weitergebracht habe.
Meine Liebe zu Dir ist ja etwas so wunder-
bares – ich kann nur noch für Dich
wünschen, ich streich mich selbst
ganz aus und gebe Dich ganz frei.

3
Du mußt furchtbar leiden und gelitten
haben, aber ich hoffe, Du bist nicht so
unglücklich wie ich. Ich wünsche Dir
von ganzem Herzen, daß Du \daß Du ihn wieder mehr als früher lieben kannst u/ in seinen
Armen noch alles das mit der Zeit finden
wirst, \was er für Dich ist/, was Du verdienst, ich wünsche es
wirklich von ganzem Herzen, denn
Du wundervolle Frau sollst ein Glück
haben.

 Du wolltest, daß wir uns nurt noch schreiben.
Sieh, liebe , Dein letzter Brief liegt
vor mir – was hat sich in 8 Tagen
verändert; nach abermals 8 Tagen, würdest
Du mich bitten, nicht mehr zu schreiben, da
Du auch diese Untreue gegen nicht
übers Herz bringst. Und wie sollte
ich an Dich schreiben? ich kann es \jetzt/ nicht
so sehr ich mich selbst damit am här-
testen strafe \treffe/. Auch ich kann nichts
Halbes – nicht ein stückweises Zerreißen
ein Schnitt.

 Eine letzte Hoffnung pflege ich \ich/ in
meinem tiefsten Innern, daß Du mich noch
lieben wirst, wenn einmal nicht mehr
ist und das[s] dann auch für mich \uns/ noch eine
Zeit des Glückes kommen kann. So gehe
ich nicht ganz bettelarm und mit \ganz/ leeren
Händen fort.

 Ich weiß, daß ich Jahre lang warten und
nach Dir hungern muß und werde immer
zur Stelle sein, wo und wann Du mich
brauchst.

x Ich bin eben im vergleich [!] zu Deinem
als Mensch u Künstler gleich herrlichen
, nicht imstande gewesen Dich
so zu fesseln, daß Du mir das größte
tatest – und vielleicht auch ein
kleiner Trost für mich – auf einen
Menschen wie Dich mußte der
gegenwärtige Wille stärker wirken
als meine Stümperfeder aus der
Ferne. Sein Wille war einfach
stärker u reifer u hat Dich ge-
zwungen.


Apparat

Überlieferung

, , , , , , , , , , , .

Quellenbeschreibung

6 Bl. (6 b. S.) – Briefpapier mit Aufdruck: „HOTEL KUMMER | Wien, VI., Mariahilferstraße Nr. 71a.“ (, , ), Tinte.

Druck

, S. 112, bei Anm. 143 (Auszug), , S. 1027–1029, bei Anm. 295 (fast vollständig in engl. Übersetzung).

Korrespondenzstellen

Beantwortet durch AM35 vom 19. September 1910 (Und Du musst schaffen! Nur einen Urschaffenden kann und will ich lieben!): Ich bin wie ich Dirs oft gesagt habe ein Mensch der nur in Begeisterung schaffen kann. sich über sich selbst erheben kann.

Datierung

, S. 449, in Anm. 143: „Hotel Kummer, Wien, undatiert, vermutlich Mitte August 1911“ [!]

, S. 905, in Anm. 380: „after 12 Sept. 1910” und S. 1029: „the most plausible date is immediately after the première, perhaps 13 September” und in Anm. 295: „September 1910, shortly after the première of the Eighth Symphony”. „1910?“ (Datierungsversuch von vor Übergabe an , ).

Dieser Briefentwurf in Tinte weist keinerlei Korrespondenzstellen auf, behandelt jedoch in ernstem Ton heikle Themen im Verhältnis zwischen AM und WG. Einen solch ernsten Brief hätte AM wohl kaum unbeantwortet gelassen, weshalb eigentlich nur zwei Interpretationsmöglichkeiten in Frage kommen: Entweder wurde dieser Brief nie verschickt oder WG erhielt seine Antwort mündlich. Der Passus Zuerst eine Bitte: Sei nicht wie gestern steinern u gefaßt lässt darauf schließen, dass der Brief unmittelbar nach einem persönlichen Treffen verfasst wurde. Weitere Hinweise belegen eine Entstehung wenige Tage nach der Uraufführung von in München (Nun will ich Dir meine Gedanken u Gefühle der letzten Tage erzählen. G[ustavs]’s Musik hat mir so ans Gemüt gegriffen, daß ich mit dem Gefühl aus dem Konzert ging). Da es keinerlei Hinweise auf ein persönliches Treffen zwischen AM und WG in München gibt, handelt es sich wohl um das anschließende Treffen in Wien, wofür auch das Briefpapier des Wiener Hotels Kummer spricht, auf dem dieser Entwurf verfasst wurde. Besonders aussagekräftig für die Datierung ist dabei WGs Passage über AMs letzten Brief vor acht Tagen (Sieh, liebe Alma, Dein letzter Brief liegt vor mir – was hat sich in 8 Tagen verändert). Bei besagtem Brief handelt es sich wahrscheinlich nicht um AM32 oder AM34, die jeweils nur wenige Worte enthielten, sondern eher um den wesentlich ausführlicheren und besonders liebevollen AM31 vom 5. September 1910, der am 8. September in Berlin ankam (Poststempel vom 6. September 1910). Acht Tage von diesem Empfangsdatum aus gerechnet, ergibt sich der 16. September 1910 als Entstehungsdatum für den vorliegenden Entwurf.

Übertragung/Mitarbeit


(Marie Apitz)
(Bettina Schuster)


A

G.[attin] und hatten zu Beginn ihrer Affäre offenbar die Abmachung getroffen, dass treu bleiben und keinen Geschlechtsverkehr mehr mit ihrem haben würde. Ob diese Verabredung gebrochen hatte, beschäftigte bereits im Rahmen der Aufdeckung der Affäre im August 1910, s. WG32 vom 4. August 1910, und blieb bis zum Tod ein immer wiederkehrendes Thema.

B

Laß mich heute sprechen […] geworden? – Briefentwurf in Tinte. Da auf diesen Blättern immer wieder Durchstreichungen, Ergänzungen und Korrekturen vorgenommen hat und außerdem weder Gruß- noch Schlussformel anfügte, kann davon ausgegangen werden, dass es sich trotz der Fassung in Tinte weder um eine Rein- noch Abschrift handelt, sondern um einen weiteren Entwurf, vgl. Zum Material von Walter Gropius.

C

Konzert – Uraufführung der von am 12. September 1910 in München.

D

Biografie – Wahrscheinlich handelt es sich dabei um die Mahler-Biografie von (), laut La Grange die erste und kurz vor der Uraufführung der erschienen (, S. 1029, bei und in Anm. 297).

E

diese hülflosen Briefe – Entwürfe dazu nicht überliefert.

F

Dein letzter Brief – Gemeint ist wahrscheinlich AM32 vom 6. September 1910, den am 8. September erhielt.